Position der DGGPP
zur Anfrage des Sachverständigenrats an die Medizinischen Fachgesellschaften
vom 03.04.2000
Vorbemerkung:
Während des Studiums - und insbesondere während der psychiatrischen
Weiterbildungszeit - fehlt es nach wie vor an entsprechenden Qualifizierungsstandards
für Alterspsychiatrie. Für die Alterspsychiatrie sind diese
Weiterbildungsmängel bereits 1975 in der ersten Enquête
und erneut 1988 in der Expertenkommission beschrieben worden. Eine
kompetente Gerontopsychiatrie ist unverzichtbar; andere Fachgebiete,
etwa die Geriatrie, können nicht die Aufgaben der Gerontopsychiatrie übernehmen
(Hirsch et al. 1999). Diese Position steht in Übereinstimmung
mit den gemeinsamen Consensus-Statements von WHO und WPA, in denen
dringend der Weiterbildungsschwerpunkt Gerontopsychiatrie eingefordert
wird (WHO/WPA 1998). Um diesem Mangel zu begegnen, wurde von der DGGPP
in diesem Jahr eine Weiterbildungsakademie gegr ündet.
"Indikationsbezogene Befragung"
Problembeschreibung:
Psychische Störungen bei alten Menschen sind häufig. Man
kann davon ausgehen, daß etwa 25 - 30% der Altenbevölkerung
unter ihnen leiden, 6 - 10% von ihnen sogar in einer Intensität,
die eine fachärztliche oder gar stationäre Intervention
erforderlich machen würde. Demenzen machen dabei zwei Drittel
bis drei Viertel der Krankheitsfälle aus. Schwere depressive
S törungen liegen bei 2-5%, paranoide Syndrome bei mehr als 4%
und eine Alkoholkrankheit bei 0,5-2% der Altenbevölkerung vor
(Bickel, 1997). Ein besonderes Problem stellt das Delir im Alter dar
(s.u.) Bei älteren Allgemeinkrankenhauspatienten, sie sind mehr
als doppelt so zahlreich wie ihr Anteil an der Bevölkerung erwarten
ließe, findet sich in mehr als 30% der Fälle eine behandlungsbedürftige
psychiatrische Komorbidität (Bickel, Cooper & Wancata, 1993),
die allerdings ärztlicherseits meist unentdeckt bleibt. Etwa
ein Viertel der Patienten einer Nervenarztpraxis sind älter als
60 Jahre (Bochnik & Koch, 1990) - mit deutlich steigender Tendenz.
Bei mehr als 40% der Bewohner von Altenheimen liegen psychische Störungen
vor. Dabei handelt es sich nicht nur um Demenzen. Mindestens ein Drittel
vo`?n ihnen dürfte vielmehr unter gravierenden depressiven Symptomen
leiden (Weyerer et al. 1995). Lediglich 5 bis 20% der älteren
Menschen mit einer eindeutigen depressiven Erkrankung erhalten überhaupt
eine spezifische antidepressive Therapie, im Heim dürfte dieser
Anteil noch niedriger liegen. Es ist gut belegt, daß depressive
Störungen bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen
die somatische Genesung nicht nur verzögern, sondern auch einen
wesentlichen Risikofaktor für den letalen Ausgang von Myokardinfarkten
darstellen (Musselman et al. 1998). An dieser wie an vielen anderen
Stellen wird eine Interdependenz zwischen der Gerontopsychiatrie und
somatischen Fächern deutlich, die, würde sie nur hinreichend
wahrgenommen, nicht nur den Patienten eine bessere Behandlung sondern
auch dem Sozialsystem eine substantielle Entlastung br ächte.
Die gelegentlich formulierte Vorstellung, daß das allgemeinpsychiatrische Angebot allein diesem Bedarf genügen könnte, ist durch die Versorgungsrealität nicht gestützt. Weniger als 10% der epidemiologisch zu erwartenden erheblich psychisch kranken alten Menschen werden von Sozialpsychiatrischen Diensten und Institutsambulanzen gesehen (Überblick bei Wolter-Henseler, 1996). Man muß also von einer erheblichen Unterversorgung dieses Klientels ausgehen. Andererseits geht es nicht nur um eine quantitative Angleichung des Angebots an den Bedarf. Die Multidimensionalität der Problemlagen psychisch kranker älterer Menschen und ihrer Angehörigen sowie die Komplexität der professionellen Versorgungslandschaft erfordert vielmehr eine spezifische gerontopsychiatrische Versorgungsplanung und -steuerung (Hirsch et al. 1999).
Im ambulanten Bereich besteht mindestens eine "latente" Unter- und Fehlversorgung. Auf der einen Seite ist dieser Mangel begründet dadurch, daß die Identifikation gerontopsychiatrischer Syndrome als "behandlungsbedürftige Krankheiten" in der Standardversorgung noch bei weitem nicht die Regel ist (besonders gut belegt ist dies bei Demenzen und Depressionen). Zum anderen, weil die Patienten und Angehörigen selbst sich der therapeutischen Möglichkeiten in der Regel nicht bewußt sind und auch viele Krankheitszustände nicht als solche begreifen. Das Kundenverhalten ist also (noch) nicht geeignet, den Mangel auf der Anbieterseite zu korrigieren.
Im stationären Bereich hat die Psychiatrie im Gegensatz zu allen anderen medizinischen Fächern (!) eine Abnahme des Anteils älterer Patienten im Zeitraum zwischen 1994 und 1997 von 16,6% auf 15,1% zu verzeichnen. Während im Bereich der psychiatrischen Krankenhäuser nur eine geringe Reduktion von 17,6% auf 16,7% stattfand, war für die psychiatrischen Abteilungen ein drastisches Absinken von 14,6% auf 12,4% zu beobachten (Reister, 2000)! Möglicherweise geht diese Absinken sogar einher mit einer Verschiebung des diagnostischen Spektrumszu Lasten der organisch begründeten psychischen Erkrankungen, wie eine Studie der Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger Psychiatrischer Krankenhäuser (BAG 1997) nahelegt. Der Befund der Bundesstatistik allein ist allerdings schon geeignet, die Sorge um eine manifeste Unterversorgung im stationären Bereich zu begründen, da die wahrscheinlichste Begründung für diese Entwicklung in der parallel zu konstatierenden massiven Zunahme psychisch Kranker im Heimbereich zu sehen ist. Der Gedanke ist zwingend, wenn auch aktuell nicht hinreichend zu belegen, daß viele alte psychisch Kranke direkt von der Häuslichkeit ohne kompetente Intervention eines Facharztes oder einer Fachabteilung direkt ins Heim transferiert werden. Daß somatische Bereiche (z.B. Innere Abteilungen) dabei eine nennenswerte Rolle spielen, ist derzeit nicht wahrscheinlich zu machen.
Empfehlungen:
Vorschlag der Nutzung einer
Hauptindikation als Indikator für
die Qualit ät einer Versorgungsstruktur: Das Delir im Alter
Ein
Delir kann grundsätzlich bei jedem Menschen und in jedem
Lebensalter auftreten. Besonders gefährdet sind allerdings Kinder
und vor allem alte Menschen. Die spezifische Anfälligkeit alter
Menschen macht das Delir in besonderem Maß`?e zu einer "Erkrankung
des höheren Lebensalters". Ein Delir gilt als häufigste
Komplikation bei hospitalisierten alten Menschen. Die Prävalenzangaben
schwanken allerdings je nach gewählten Einschlußkriterien,
nach Risikokonstellation des Klientels und nach Art der untersuchten
Einrichtung zwischen 10% und über 50% (Inouye 1994). Ein besonderes
Problem stellt die weit verbreitete Ignoranz gegenüber diesem
Krankheitsbild dar, die in der Konsequenz dazu führt, daß wohl
mehr als die Hälfte der Delire unerkannt ablaufen (Ardern et
al. 1993). Dies ist umso problematischer, da Delire häufig die
ersten und nicht ganz selten auch die einzigen Zeichen einer schweren
körperlichen Erkrankung sind (Inouye et al. 1999). Die Inzidenz
eines Delirs während des stationären Aufenthalts älterer
Patienten beträgt etwa 20-30% (Inouye et al. 1993) und differiert
je nach Grad und Ausprägung der Grundkrankheit. Angesichts der
Komplexität möglicher somatischer Pathomechanismen (Kasper & Jung
1995), die beim alten Patienten eine Rolle spielen können, erscheinen
diese Ziffern nicht überraschend. Neben einer Vielzahl somatischer
Erkrankungen führen bei alten Patienten oft medikamentöse
Interventionen zum Delir. Eine große Zahl von Substanzen, die
häufig beim alten Patienten eingesetzt werden, können auch
in therapeutischen und nicht allein in toxischen Dosierungen delirante
Episoden auslösen. Ob die langzeitige Mortalität von Delirpatienten
bei Berücksichtigung von Einflußfaktoren wie Alter, Schwere
der somatischen Grunderkrankung, Demenz und psychosozialer Behinderung
real erhöht ist, ist noch nicht endgültig gesichert (Inouye
et al. 1998). Delirpatienten befinden sich allerdings länger
in stationärer Behandlung, die sich zudem komplikationsreicher
gestaltet, und müssen häufiger danach in ein Seniorenheim
umsiedeln (Francis & Kapoor 1992).
Für die Prognose jeglichen Delirs ist das schnelle Erkennen und kausale Behandeln von zentraler Bedeutung. Wegen dieser unstrittigen Situation wurde das Delir bei alten Patienten als Marker-Erkrankung`? zur Erfassung stationärer Behandlungs- und Pflegequalität vorgeschlagen (Inouye et al. 1999a). Darüberhinaus könnte die Delirhäufigkeit auch als Qualitätsindikator von komplexen geriatrisch-gerontopsychiatrischen Versorgungssystemen dienen. Es scheint nicht unrealistisch, die Auftretenshäufigkeit von Deliren im Alter wesentlich zu reduzieren, indem einfache präventive Maßnahmen umgesetzt werden. Allein die Anwendung eines Protokolls, das wesentliche Risikokofaktoren wie Schlafmangel, Immobilität, Seh- und Hörstörungen sowie Pharmakotherapie und Dehydratation strikt kontrolliert, konnte in einem Allgemeinkrankenhaus eine Reduktion des Delirrisikos bei alten Patienten um etwa ein Drittel bewirken (Inouye et al. 1999b).
Abschließende Betrachtungen
Gemeindebezogene
gerontopsychiatrische Interventionen können
von einer multizentrisch angelegten Versorgungsforschung, die die
Ebenen der direkten Klientenarbeit, die Kooperation zwischen den Trägern
und die Koordination im Verbund umfaßt (u.a. für Fragen
der Qualitätssicherung, des Auf- und Ausbaus von Angebotsstrukturen
und der Lenkung und Absicherung von Finanzierungsströmen) direkt
profitieren. Sei es, indem die Effektivität einer umschriebenen
Maßnahme wie einer Tagespflegeeinrichtung zweifelsfrei belegt
(vgl. Zank & Schacke 1998), und so die weitere Förderungswürdigkeit
unterstrichen wird; sei es, daß über die Ermittlung versorgungsepidemiologischer
Daten für eine Region die Zielsicherheit einzelner Interventionen
erhöht wird. So konnte in zwei Bezirken Berlins mittels eines
neu entwickelten Instruments der Anteil gerontopsychiatrischer Klienten
in Einrichtungen der Altenhilfe und -pflege so überzeugend dargestellt
werden, daß im Einzelfall sogar pflegesatzrelevante Konsequenzen
gezogen werden konnten (Gutzmann et al. 1998). Versorgungsforschung
im Verbund kann also sowohl für die Region als auch für
den einzelnen Tr äger unmittelbare Effekte entfalten.
Die gemeindebezogene Intervention im Interesse des alten Menschen kann heute kaum noch als isolierte Maßnahme gedacht werden (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, 1993). Vielmehr ist die Vernetzung unterschiedlicher Dienste und Anbieter sowohl aus fachlich-qualitativen, als auch aus ökonomischen Gründen zwingend. Das Gerontopsychiatrische Verbundsystem steht für eine regionale, an Bezirksgrenzen oder Einzugsgebieten ausgerichtete gemeinsame Kooperationsstruktur von Trägern der Gerontopsychiatrie, Altenhilfe, Altenpflege und Geriatrie (Gutzmann & Widmaier-Berthold 2000). Bisher besteht allerdings ein schmerzlicher Mangel an kooperationsbereiten niedergelassenen (Fach-) Ärzten und eine noch lange nicht befriedigende Bereitschaft der Kostenträger, Verbundsysteme als Versorgungselemente positiv wahrzunehmen oder gar zu unterstützen.
Literatur auf Anfrage bei der DGGPP